Sophokles begegnete mir zum ersten Mal, als ich mit 13 Jahren in der Schule seinen "Philoktet" zu übersetzen hatte. Die späte, kaum mehr erhoffte, drum umso mehr bewunderte Wendung des jungen Neoptolemos gegen den zynischen Pragmatismus der älteren Generation - repräsentiert durch Odysseus - schien wie für mich geschrieben und lehrte mich schon damals die große Humanität des Autors erfühlen, später auch erkennen.
Wenn das Wesen der Tragödie in der Gegenüberstellung von Gottheit und menschlichem Individuum - Natur und Mensch, Müssen und Wollen, Leiden und Tun, Schicksal und Freiheit des Handelns, Tod und Leben - besteht, so ist Sophokles von den überlieferten Tragikern derjenige, der in seinen Stücken am ehesten eine Art Gleichgewicht zwischen den beiden, sich im Konflikt befindlichen Seiten herzustellen wusste: Bei Aischylos hat Orestes zum Beispiel gegen die Übermacht des Göttlichen (der ererbten Schuld, des Fluchs, der auf seinem Geschlecht ruht, des alten Gesetzes des Talion, kurz seines ihm bestimmten Schicksals) keine Chance, seine Tat ist ihm auferlegt, deren Folge (nämlich der Wahnsinn) überfällt ihn, seine Entsühnung erfolgt durch höhere Instanzen. Sein individuelles Wollen, ja seine Existenz verbrennt unter all diesen Einflüssen, er ist schon im Leben tot, sein Ausgeliefertsein ist hoffnungslos. Die Helden Euripides' müssen erkennen, dass das, was sie zum Handeln, also, wie die Tragiker meinen, zum Fehlen zwingt, nicht von außen, von Oben oder Unten kommt, sondern von Innen, aus ihnen selbst. Der Konflikt ist in den Menschen selbst verlegt, die Götter müssen ex machina einschweben, um das tragische Übergewicht des Göttlichen wieder herzustellen. Der Mensch ist mit sich selbst allein.
Sophokles findet eine erstaunliche Balance zwischen der Erfahrung des Ausgeliefertseins an außermenschliche Kräfte und der Erkenntnis eigener Schuld: Philoktet sieht ein, dass er in seinem berechtigten Zorn über erlittenes Unrecht übertrieben hat mit ungerechtfertigten Anschuldigungen. Ajax begeht Selbstmord nicht nur aus Scham darüber, dass ein Gott ihn mit Wahnsinn schlug und er sich an einer Schafherde vergriff, sondern weil er begreift, dass er in seinem Zorn über empfundenes Unrecht alles Maß verloren hatte. Oedipus in seinem überheblichen Aufklärungsdrang erkennt nicht nur, dass er unwissentlich Vatermord und Mutterinzest begehen musste, er erkennt auch seine gefährliche Prädisposition zu Jähzorn und Selbstgerechtigkeit, dafür blendet er sich. Und in der Antigone wird das Bestehen Kreons auf Recht und Gesetz gerechtfertigt und das Irrationale, Gefährliche in Antigones Verhalten sehr deutlich.
Es ist jedes Mal aufs Neue eine befreiende, beruhigende Lehre, die die Beschäftigung mit Sophokles vermittelt, der nie verschweigt, dass der Mensch, zum Tod geboren, keine Hoffnung auf Glück hat - es sein denn, er wäre erst gar nicht geboren worden. Doch dieses tragische Paradox hat bei Sophokles keine provokante Schärfe wie bei Euripides, dem jüngeren, und nicht das Erratische wie bei Aischylos, dem älteren Autor.
Sophokles' Stücke lassen uns die menschliche Existenz ohne Illusion, aber auch mit Bewunderung betrachten. Denjenigen von uns, die sich verzweifelt dagegen wehren, der Mehrheit der "Ganz Heutigen" Recht geben zu müssen, dass das Erbe von Aufklärung und Humanismus hoffnungslos veraltet und verloren sei - ihnen hat Sophokles eine Menge zu sagen.
Artikel erschienen am Mi, 11. August 2004: welt.de