볼 줄 아는 법도 길러줘야.
Die Aura des Originals strahlt nur dem Wissenden
Es muss mehr passieren: Das Deutsche Historische Museum darf sich nicht nur auf die Kraft der Objekte verlassen
von Holger Kreitling
Ein Gewehr hängt an der Wand, das Bajonett ist aufgesteckt, eine Tafel lädt zum Anfassen ein. Daneben, in einer Glaskiste, der Tornister der Soldaten. Der Besucher kann das Gewicht heben. 9,7 Kilo sind ziemlich schwer zu tragen.
Die Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum (DHM) ist von der Kritik hoch gelobt worden. Die Fülle von Dokumenten und Gegenständen beeindrucken tatsächlich. Allerdings mehr historisch Interessierte. Wer ohne großes Wissen die Ausstellung betrachtet, muss viel Zeit über Vitrinen gebeugt verbringen und Zeitungsausschnitte lesen, Karten betrachten, Urkunden studieren. Die Räume wirken sperrig, unzugänglich.
Die Tornister-Gewichtsklassifizierung ist Teil eines Versuchs. An fünf Stellen versucht das DHM eine andere Didaktik. "Sie sind herzlich eingeladen, Geschichte zu begreifen", steht auf einer Tafel. Es gibt historische Stereofotos, die einen Blick in einen Schützengraben gewähren, zwei Schubladen zum Herausziehen sowie Drehtafeln, die die exakten Verwaltungsaufbau und die Funktion des Völkerbundes erläutern. Die fünf didaktischen Elemente sind ein Probelauf für die Dauerausstellung im Herbst. Deshalb lohnt sich die Frage, ob diese spröde Herangehensweise an Geschichte wirklich zeitgemäß ist.
Die Antwort ist: Nein. DHM-Chef Hans Ottomeyer sprach bei der Eröffnung davon, man wolle den Ersten Weltkrieg nicht inszenieren und habe darauf verzichtet, etwa einen Schützengraben nachzubauen. Das mag unnötig sein. Gleichzeitig wohnt der Erfahrung von Enge, von Lärm, der Ausweglosigkeit der Soldaten eine Kraft inne, die keinen Betrachter unberührt lässt. Im Preußen-Museum in Wesel gibt es dies: Wer in einem Gang durch eine Lichtschranke tritt, wird mit der Kakophonie des Schlachtfeldes konfrontiert. Durch einen Sehschlitz ist perspektivisch der Blick aus dem Laufgraben heraus simuliert.
Anderes Beispiel: In der Archäologie-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau 2003 war der Fundort Kalkriese dargestellt. Die Schlacht im Teutoburger Wald wurde simuliert durch Lichtpunkte an Wänden, Decke, Boden. Herztöne erklangen im Raum. Und die Lichtpunkte schwanden, Mann für Mann. Eindringlicher lässt sich mit wenig Aufwand das Schlachten nicht darstellen.
Die Inszenierung von Geschichte ist ein altes Thema. Vor allem das Bonner Haus der Geschichte arbeitet mit Installationen und nachgebauten Elementen. Die große Ausstellung 1999 über 50 Jahre Bundesrepublik war ein Musterbeispiel, wie Historie in neuen, einleuchtenden Zusammenhängen präsentiert werden kann.
Das DHM setzt in seiner bisherigen Arbeit vor allem auf die Kraft des Originals. Aus Historiker-Sicht mag diese Konzentration angeraten sein, doch für Besucher, die ohne großes historisches Wissen in Geschichts-Museen gehen, Schulklassen zumal, ist die Beschäftigung mit Originalen schwierig. Ein Kelch aus der Frühen Neuzeit spricht nicht ohne weiteres, und wenn, dann in einer fremden Sprache. Es geht darum, den historischen Staub des Artefakts abzuklopfen und trotzdem Werte zu vermitteln, die politische und soziale Geschichte historischer Epochen dem Betrachter nahe zu bringen. Selten entfalten Originale ihre volle Wirkungsmacht, wenn sie nicht in prunkender Umgebung gezeigt werden.
Schon wahr: Inszenierung setzt auf Effekt und optischen Reiz statt auf quellenorientierte Wissensvermittlung, Wirkung ist wichtiger als historische Genauigkeit, Nähe wichtiger als Distanz. Aber: Die Vermittlung von historischer Plausibilität, von Erfahrungswerten und sozialen Kontexten sind hohe Güter, die Besucher vor Vitrinen heutzutage eher schwer nachvollziehen. Die Langweile ist ein böser, sich schnell einschleichender Feind. Das DHM vergibt eine Chance, wenn es großzügig auf Inszenierung verzichtet. Raumwirkung hat im Museum eine große Zugkraft, die oft - aus Geldgründen oder konzeptueller Überzeugung - kaum genutzt wird. Museen konkurrieren mit Medien, die sich selbst weit größeren Innovationswellen unterziehen. Die Durchsetzungsfähigkeit von Kino, Fernsehen, Internet, digital aufbereiteten Animationen, Ton- und Klang-Installationen ist enorm - und zieht auch Museumsgänger magisch an.
Selbst die martialische Aufbereitung von Kriegsgeschichte muss keine Ängste hervorrufen. Kriegsbilder stehen immer in Bezug zur aktuellen Bilder-Produktion aus Kino, Computerspielen, Nachrichten. Um noch einmal auf den Ersten Weltkrieg zurück zu kommen: Es gibt in Kubricks Film "Wege zum Ruhm" eine berühmte lange Kamerafahrt durch einen Schützengraben, die die Not und Pein der Soldaten brillant darstellt. Solche Bilder in einer Ausstellung bieten die Chance, Zustände, Erlebnisse aus schriftlichen Quellen aufzubereiten.
Die Inszenierung von Geschichte war vor ein paar Jahren auf dem Höhepunkt, als das Virtuelle und Digitale als heißeste Braut weltweit angesehen wurde. New Economy und wissenschaftlicher Fortschritt schienen unendlich zu sein. Inszenierung war wichtiger als alles Echte, das Erdenschwere und Banalität verhieß. Die Expo 2000 wurde zum Paradiesgärtlein des globalen Fortschrittsglaubens und der Ausstellungsarchitektur. Mit der Krise wurde einerseits Geschichte als Sinnstiftung wieder wichtig, andererseits kehrten traditionelle Methoden zurück in die Museen. Doch ist ein künftiges Nationalmuseum, wie es das DHM sein will, im ästhetischen Rückschritt nur schlecht denkbar. Das Museum hat in seinem Weg bisher Kritiker immer verblüfft und den früh postulierten Weg der konservativen Geschichtsvermittlung mit Sinnstiftungs-Auftrag nie eingeschlagen. Es darf nicht in selbst gewählter Würde erstarren.
Die auratische Kraft des Originals strahlt nur, wenn ein historisches Bewusstsein vorhanden ist. Die Bewunderung des Originals setzt Wissen voraus, Wissen, das es bei denen nicht gibt, die es vermittelt bekommen sollen. Es sollte in der künftigen Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums - im doppelten Sinne - unbedingt mehr passieren.
Artikel erschienen am 16. Juni 2004: © WELT.de